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Online-Symposium „Gemeinsam Kinder Stärken

anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des EMIL-Projekts
am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm

Anlässlich des 10-jährigen Jubiläums des Projekts „EMIL – Emotionen regulieren lernen“ fand im April 2022 ein Online-Symposium des ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen statt.

Flyer (PDF)

Hier finden Sie Zusammenfassungen der Vorträge und Antworten auf Fragen, die während des Symposiums gestellt wurden.

EMIL – Emotionen regulieren lernen: Rückblick, Gegenwart & Zukunft

Zusammenfassung des Vortrages (PDF)

Fragen & Antworten

Warum ist die Förderung der exekutiven Funktionen gerade im Alter von 3-6 Jahren so wichtig? Sollte man aber nicht grundsätzlich schon früher fördern und die EF in allen Bildungsbereichen mitdenken?
Exekutive Funktionen sind in allen Altersspannen eine grundlegende und wichtige Basis für viele Entwicklungsbereiche: neben dem sozial-emotionalen Bereich ist die Bedeutung für die mathematischen Fähigkeiten, Fremdsprachen, Naturwissenschaften etc. mittlerweile gut belegt.

Dabei kommt es uns sehr zu pass, dass die exekutiven Funktionen einen sehr langen Entwicklungszeitraum haben, erst Mitte 20 in etwa sind sie fertig entwickelt.

Mit EMIL setzen wir im Kindergartenalter bei den 3-6-Jährigen an. Diese Zeit ist für die Förderung ideal, denn wir beobachten in den exekutiven Fähigkeiten hier tatsächlich einen regelrechten Entwicklungsspurt. Das bedeutet, dass in diesem Alter besonders viel erreicht werden kann – die Förderung im Vorschulalter ist außerordentlich wirksam!

Aber auch bereits bei den Jüngsten in der Krippe ist das Thema sehr wichtig. Denn hier stellt sich eine herausfordernde Situation dar: Einerseits sind die exekutiven Funktionen noch ganz wenig entwickelt und die Kinder zeigen selbstreguliertes Verhalten eher sprunghaft, andererseits erfordert der Krippenalltag vom Kind ein sehr hohes Maß an Selbstregulation – also guten exekutiven Fähigkeiten. Denken wir nur an all die Wartezeiten, emotionalen Herausforderungen, die oftmals aus eigener Kraft noch nicht regulierbar sind, oder Trennungsschmerz, sich einlassen auf den Wechsel von einer Tagesaktivität in die nächste. Hier ist achtsames pädagogisches Handeln sehr wichtig, sodass die exekutiven Funktionen des Krippenkindes sich gut entwickeln können.

Selbst in der Grundschule ist EF ein wichtiges Thema: Immer komplexer werdendes Denken, selbstgesteuertes Arbeiten, Fokussierung, Frustrationstoleranz und auch prosoziales Verhalten stehen hier als wichtige Entwicklungsaufgaben im Mittelpunkt. Um diese erfolgreich zu bewältigen, sind wiederum gut funktionierende Exekutive Funktionen zentral.

Also, um die Frage kurz zu beantworten: Ja, exekutive Funktion sollten als Grundlage in allen Altersbereichen mitbedacht werden. Sie bilden die Basis für jedes Zeit- und Entwicklungsfenster.
Wie passt das offene Konzept mit der Förderung der exekutiven Funktionen zusammen?
Grundsätzlich widerspricht die offene Konzeptarbeit der Förderung der exekutiven Funktionen nicht – eher im Gegenteil. Im offenen Konzept können Kinder einerseits ihre exekutiven Funktionen durch Beanspruchung gut entwickeln, andererseits stellen sie auch die Grundlage für das alltägliche Zurechtfinden und Handeln in der Kita dar. Die Gestaltung der offenen Arbeit muss also stets unter der Berücksichtigung stattfinden, dass die Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren erst auf relativ gering ausgebildete exekutive Funktionen zurückgreifen können, um die Anforderungen des Kitaalltags zu bewältigen. Dies stellt besonders im offenen Konzept eine Herausforderung dar, denn die Arbeit im offenen Konzept benötigt sehr klare, sinnvolle und transparente Strukturen. Es kommt also, wie bei so vielem anderen auch, auf das Wie an. Die Abläufe müssen für Kinder nachvollziehbar und verlässlich sein, das bedeutet, dass die Kinder wissen müssen, wo sie was finden, wer wofür ansprechbar ist und wann im Tagesablauf was passiert. Klare Strukturen, Regeln und Abläufe fördern hierbei nicht nur die exekutiven Funktionen, sondern erzeugen für die Kinder vor allem Sicherheit, Orientierung und Vorhersehbarkeit. Diese Grundbedingungen sind unerlässlich, damit das Kind im Tagesgeschehen eigenständig mitdenken und mitgestalten kann. Beobachten Sie Kinder, die sich damit eher schwertun, sind die kleinen Helferlein gefragt: Auf Grundlage des Wissens um die Entwicklungsbedingungen der exekutiven Funktionen kann gut entschieden werden, welches Kind zu welchem Zeitpunkt (oder bei welcher Tagesaktivität) welche Unterstützung benötigt, um auch im offenen Konzept selbsttätig und selbstreguliert agieren zu können. Die Förderung und sorgsame Beachtung der exekutiven Funktionen sind somit untrennbar mit dem offenen Konzept verbunden.
Entschieden ist auch, dass die Kinder von Beginn an sorgfältig in das offene Konzept eingeführt werden. Reflektieren Sie kontinuierlich, ob die Kinder von Anfang an ausreichend Orientierung erhalten, um die Abläufe im Haus zu verstehen und an welchen Stellen Sie ggf. nachjustieren können.
Wie fördert man exekutive Funktionen am besten?
Zunächst einmal: Es gibt kein Rezept. Was es jedoch gibt sind wissenschaftlich belegte Prinzipien, die bei der Förderung von EF berücksichtigt werden sollten:
  • Wiederholung, denn Übung macht den Meister
  • Alltagsintegrierte Impulse ist effektiver, als punktuelle Übungssequenzen
  • Bewegung
  • Entspannung und Achtsamkeit
  • Freude am Tun
  • Überforderung und auch Unterforderung vermeiden, denn beides löst Stress aus
Diese Prinzipien allein reichen jedoch nicht aus. Sie müssen gemeinsam mit einem förderlichen Umfeld und einer sensitiven Begleitung in den Blick genommen werden. Die eigene pädagogische Haltung ist demnach entscheidend, um die Entwicklung der EF gewinnbringend zu unterstützen. Dabei ist folgender Dreiklang handlungsleitend:
  1. Beobachten, wo das Kind aktuell steht. Welches sind seine aktuellen Fähigkeiten und Interessen? Wo gibt es Probleme/Schwierigkeiten?
  2. Das Beobachtete vor dem Hintergrund der Entwicklung der exekutiven Funktionen reflektieren und verstehen.
  3. Das pädagogische Tun auf Grundlage dessen gestalten. Hierbei können folgende Fragen leitend sein:
    • Welcher ist der nächste Entwicklungsschritt für das Kind?
    • Welche co-regulierenden Maßnahmen benötigt das Kind von mir (als Fachkraft), um diesen Entwicklungsschritt so selbsttätig als möglich zu gehen?
      Beispiele: Das Kind benötigt
      • mehr Unterstützung, um die Regeln und Tagesstrukturen zu begreifen.
      • mehr Bewegung.
      • mehr Hilfe, um sich zu entspannen.
      • mehr Einbindung ins Rollenspiel.
      • mehr Situationen, die es ins Denken bringen und den Perspektivwechsel anregen.
Wie kann ich mehr über die Inhalte von EMIL erfahren?
Exekutive Funktionen und selbstgesteuertes Tun können vielfältig gefördert werden. Denn in einem System wie dem Kindergarten greifen viele Aspekte ineinander, die Einfluss auf das Verhalten und die Entwicklung der Kinder haben. EMIL bezieht alle Ebenen der pädagogischen Arbeit ein: die Haltung der Erzieherin und ihre Interaktion mit den Kindern, die strukturellen Bedingungen und die Gestaltung des Umfelds sowie die pädagogischen Angebote.

Haltung – Dialog – Interaktion
Kinder brauchen Erwachsene, die sie ernst nehmen in ihren Gefühlen, feinfühlig auf sie eingehen, Orientierung geben und ihnen vorleben, wie es gelingt, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu regulieren. Dies ist einfacher, wenn pädagogische Fachkräfte um die Entwicklung von exekutiven Funktionen und Selbstregulation wissen. Sie können bspw. den Zorn und die Verzweiflung eines 3-Jährigen besser verstehen, der auf sein Lieblingsdreirad warten muss. Pädagogische Fachkräfte, die dafür sensibilisiert sind, worauf es bei der Stärkung von exekutiven Funktionen und Perspektivenübernahme ankommt, bleiben gelassener und verändern ihre Interaktion mit Kindern: Sie spiegeln Gefühle auf eine Art, die Kindern zunehmend besser erlaubt, sich selbst zu beruhigen und achtsam mit sich und anderen umzugehen. Sie trauen Kindern zu, eigenständig Lösungen für Probleme zu finden. Fragen werden wichtiger als Antworten, Selbsttätigkeit und kreatives Denken sind gefordert.

Strukturen
Ein weiteres Anliegen des EMIL-Konzepts ist es, eine Lernumgebung zu schaffen, in der Kinder gute Voraussetzungen für selbstgesteuertes Tun und ein entspanntes soziales Miteinander vorfinden. Hier spielen die räumliche Gestaltung und die Darbietung von Material, die zeitlichen Abläufe und Übergänge zwischen Angeboten, die Gruppenzusammensetzung und Altersstruktur sowie die vereinbarten Regeln und Rituale eine bedeutende Rolle.

Pädagogische Angebote
Durch pädagogische Angebote können die exekutiven Funktionen gefordert und damit gefördert werden. Wichtig ist hierbei, Spiel- und Handlungsanlässe zu schaffen, die Kinder zum planvollen, zielgerichteten Handeln, zum Aushandeln von Interessen und Zielen sowie zur eigenständigen Suche nach Lösungen anregen. Dies kann sowohl durch strukturierte Angebote als auch während der Freispielzeit geschehen. Entscheidend ist in jedem Fall das “Wie”, also das methodische Vorgehen und die Art, wie Kinder in die Gestaltung eingebunden werden. Darüber hinaus finden pädagogische Angebote zumeist mit anderen Kindern und in sozialer Interaktion statt. Miteinander spielen, etwas zusammen erforschen, gestalten oder erfinden fordert und fördert die exekutiven Funktionen gleichermaßen.

Kleine Helferlein
Auf allen drei der beschriebenen Handlungsebenen können „Kleine Helferlein“ eingesetzt werden, wenn Situationen zu bewältigen sind, die sonst noch nicht eigenständig bewältigt werden können. Unter “Kleinen Helferlein” verstehen wir beispielsweise bildliche oder sprachliche Symbole, wie z.B. zur Kennzeichnung von Funktionsbereichen und Materialien, kleine Hilfsmittel wie Sanduhren zur selbständigen Zeitkontrolle oder auch die Ermutigung zum sprachlichen Begleiten von Handlungen (z.B. „Mauseohr, Mauseohr rundherum und noch ein Tor“ beim Schuhebinden). Immer geht es darum, dem Kind oder den Kindern durch eine kleine äußere Hilfe Selbstständigkeit und das Gefühl von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen und sie hinsichtlich des nächsten Entwicklungsschritts zu fördern. Sobald die Kinder die Situation zunehmend allein meistern können, kommt das “Kleine Helferlein” seltener und irgendwann gar nicht mehr zum Einsatz.

Sie möchten noch mehr über EMIL erfahren, dann besuchen Sie uns auf unserer Homepage:
Inhalte und Projektphasen: https://www.znl-emil.de/
Rahmenbedingungen und Anmeldung bei EMIL in Kolibri: https://emil-akademie.znl-ulm.de/
Was ist das Erfolgsgeheimnis von EMIL?
  • Das erste ist schon mal, dass exekutive Funktionen (EF) jeden etwas angeht! Denn durch EMIL werden nicht nur die exekutiven Funktionen der Kinder gestärkt, letztlich profitieren auch die Fachkräfte durch den Wissenszuwachs für ihre eigenen EF. Stichwort: Selbstbezug und Selbstkenntnis!
  • Aus der Wissenschaft für/mit der Praxis: Der Impuls zur Entwicklung von EMIL kam aus der Wissenschaft. Mit Wissenschaft die Praxis verändern – das erschien auch deswegen möglich, weil das Fachwissen der Wissenschaft gut verknüpft wurde mit der Intelligenz der Praxis. Das heißt, dass die enge Zusammenarbeit mit der Praxis dafür Sorge trug, dass mit EMIL ein Konzept entstand, das die pädagogische Fachwelt wirklich brauchte! Speziell war dabei das interaktive, explorative und damit dynamische Vorgehen. Die Begegnung von Wissenschaft und Praxis ist sicherlich ein ganz bedeutender Erfolgsfaktor.
  • EMIL setzt auf Nachhaltigkeit: deswegen werden die pädagogischen Fachkräfte von Anfang an ins Tun gebracht, mit hochwertigen Materialien unterstützt und auch angeregt im Nachgang stetig den EMIL-Prozess zu reflektieren. Dafür wurden zum Beispiel Reflexionsmaterialien entwickelt, damit die „EMIL-Brille“ auch nach der Qualifizierung noch aufbehalten wird.
  • das führt zum Punkt der Haltung: Die Fachkräfte sind durch EMIL so gut informiert über EF, dass sie ihr pädagogisches Handeln damit begründen können. EMIL setzt somit direkt an der Haltung der Fachkräfte an (siehe Schaubild unter “Wie kann ich mehr über die Inhalte von EMIL erfahren?”) und hilft ihnen, ihr Wissen nachhaltig im Alltag umzusetzen.
  • Emil knüpft an verschiedenen Ebenen an: dadurch kann sehr individuell an den tatsächlichen Bedarfen angesetzt werden und alltagsintegriert in der Kita umgesetzt werden. Es ist einfach für jeden etwas dabei und jede/r findet sich mit ihren/seinen individuellen Bedarfen in EMIL wieder!
  • Letztlich haben wir sehr gut qualifizierte Referent:innen, die mit Herzblut EMIL verbreiten! Vielen Dank an dieser Stelle an alle EMIL-Referent:innen!
  • CorA-Kids: Projektergebnisse

    Zusammenfassung des Vortrages (PDF)

    Fragen & Antworten

    Gibt es Kinder, bei denen es besonders wichtig wäre, zu intervenieren, z.B. spezielle Gruppen? Oder sind alle Kinder gleichermaßen betroffen?
    Die Analyse der Daten aus CorA-Kids ist noch nicht so weit abgeschlossen, dass hierzu Aussagen getroffen werden können (siehe Frage: Gibt es bereits veröffentlichte Teile der Studie?)

    Grundsätzlich konnten aber wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder aus benachteiligten Familien im Vergleich über eher schlechter ausgebildete exekutive Funktionen verfügen. Das hat u.a. den Grund, dass diesen Familien die Möglichkeiten fehlen, die Kinder in gutem Maß zu unterstützen und zu fördern. Auch wirkt sich (chronischer) Stress negativ auf die Entwicklung von exekutiven Funktionen aus. Diese ungünstigen Bedingungen wurden durch die Corona-Pandemie verstärkt. Beispielsweise kamen beengte Wohnverhältnisse stärker zum Tragen. Viele Untersuchungen konnten zeigen, dass besonders Kinder aus benachteiligten Familien unter der Pandemie und den damit verbundenen Maßnahmen leiden.
    Aber auch Kinder aus Familien, die grundsätzlich über mehr Ressourcen verfügen, können beeinträchtigt sein. Anforderungen an die Eltern durch Homeoffice, ältere Geschwister im Homeschooling, die zusätzliche Unterstützung der Eltern brauchten usw. können dazu führen, dass der Druck auf Eltern und Familien so hoch ist, dass er sich nachteilig auswirkt.

    Und alle Kinder waren mehr oder weniger gleichermaßen von Kontaktbeschränkungen, eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten (gesperrte Spielplätze) etc. betroffen. Es lässt sich also nicht ganz so leicht vorhersagen, welche individuellen Kinder besonders zu fördern wären. Hierzu leistet die gezielte Beobachtung der Kinder einen wertvollen Beitrag (siehe Frage Woran erkenne ich, in welchem Bereich mein Kind Schwächen hat?).

    Bei der Förderung exekutiver Funktionen bieten sich besonders Maßnahmen und Aktivitäten für alle Kinder an. Die Entwicklung dieser Funktionen profitiert besonders von einem ganzheitlichen, alltagsintegrierten Ansatz und der Verbindung mit dem sozialen Miteinander. Hier eignen sich Förderansätze wie Musik, Bewegung oder das gemeinsame Spiel.

    Angebote zur Einzelförderung können für manche Kinder zusätzlich sinnvoll sein, da hier weitere Aspekte wie bspw. die sprachlichen Fähigkeiten oder auch der emotionale Stress verstärkt berücksichtigt werden können.

    Wurden auch Daten zur Herkunft bzw. soziale Unterschiede im Zusammenhang mit den Tests erfasst?
    Ja, dazu wurden Daten erhoben. Mit dem Fragebogen zum familiären Hintergrund erfassten wir u.a., welche Muttersprache das Kind hat und welche Sprache zu Hause gesprochen wird, ob die Eltern nach Deutschland zugewandert sind sowie den Bildungs- und Berufsabschluss der Eltern. Für unser Symposium war uns zunächst einmal wichtig zu prüfen, wie sich der Entwicklungsstand der Kinder aktuell insgesamt darstellt und welche Maßnahmen für die Entwicklung der Kinder demzufolge hilfreich wären. Weitere Analysen stehen derzeit noch aus.
    Ist die Studie „CorA-Kids“ repräsentativ?
    Die Stichprobengrößen von 265 Kindern (aktuelle Daten) und 235 Kindern (Daten aus dem EMIL-Projekt) sind rein von der Größenordnung her geeignet, verallgemeinerbare Aussagen zu treffen. Zum Vergleich: Sollen Aussagen über die Bevölkerung in Deutschland (80 Millionen Personen) getroffen werden, werden häufig 1.000 Personen befragt. In Deutschland leben ca. 2 Millionen Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren, sodass die Größe der Stichprobe durchaus angemessen ist. Im Vergleich zu vorliegenden bereits hochrangig publizierten Untersuchungen zur Entwicklung der exekutiven Funktionen bei Kindern, liegt unsere Studie mit ca. 250 Datensätzen von Kindern (pro Gruppe) in einem guten Bereich, der aussagekräftige Ergebnisanalysen zulässt.

    Bei diesen Ergebnisanalysen werden häufig bestimmte Merkmale des Kindes, seines familiären Hintergrundes und/oder auch der Kitas als zusätzliche Kontrollvariablen verwendet. Das ist auch in der CorA-Kids Studie ein sinnvolles Vorgehen. Sowohl die Kitas als auch die Eltern konnten sich frei für oder gegen eine Teilnahme an der Studie entscheiden. Dabei hatten sich – was aufgrund der Pandemiebedingungen verständlich ist – nicht ausreichend viele Kindertageseinrichtungen und Eltern zur Teilnahme bereiterklärt um z.B. mittels der Ziehung einer Zufallsstichprobe oder gezielter Auswahlkriterien die Repräsentativität der Stichprobe zu verbessern.
    Zudem stellen wir fest, dass es eher die bildungsnahen Familien sind, die sich für eine Teilnahme entscheiden. Das ist ganz typisch für Studien wie unsere und es liegen umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit solchen Eigenschaften von Stichproben vor: Statistischen Kontrollvariablen, die wir mittels Fragebogenerhebungen zusätzlich erfassen, helfen uns, auch unter diesen Voraussetzungen zu verallgemeinerbaren Ergebnissen zu kommen.

    Wo sollte man als erstes ansetzen bei der Förderung exekutiver Funktionen, welche ist die „wichtigste“ Funktion?
    Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Betrachtet man die Funktionen aus der Entwicklungsperspektive, so gibt es Erkenntnisse dazu, dass sich zunächst das Arbeitsgedächtnis und die Inhibition und darauf aufbauend die kognitive Flexibilität entwickeln. Daraus könnte man schließen, dass zunächst die grundlegenden Funktionen gefördert werden sollten, um die komplexere kognitive Flexibilität nicht zu früh zu „überfordern“.

    Allerdings verläuft die Entwicklung der exekutiven Funktionen individuell sehr unterschiedlich. Deshalb ist es sinnvoll auch individuell genau hinzuschauen und zu beobachten, welche Funktion aktuell am meisten von einer Förderung profitieren würde. So kann es z.B. sein, dass ein Kind große Schwierigkeiten hat, sich auf neue Situationen und veränderte Bedingungen einzustellen, was nahelegt, dass die Förderung der kognitiven Flexibilität der erste Schritt wäre. Allerdings zeigt das Kind in anderen Situationen ebenfalls eine geringe Impulskontrolle, sodass vielmehr die Inhibition gefördert werden sollte, da sich das Kind bei Veränderungen dadurch schwer tut, sich von gewohnten Abläufen zu lösen. Eine Förderung der Fähigkeit zur Inhibition kann sich dann positiv auf die kognitive Flexibilität auswirken.

    Die drei grundlegenden Funktionen Arbeitsgedächtnis, Inhibition und kognitive Flexibilität bilden eine Einheit, die im guten Zusammenspiel unsere Verhaltens- und Emotionsregulation stark beeinflusst, die sich in ihrer „Dreiteiligkeit“ aber erst im Kindergartenalter ausbildet. In den komplexen Anforderungen unseres Alltags sind letztlich alle drei Funktionen gleichermaßen wichtig, auch wenn in manchen Situationen durchaus mal eine stärker als die andere beansprucht wird. Es ist daher gut, Kindern unterschiedliche Situationen anzubieten, die mal die eine und mal die andere der exekutiven Funktionen herausfordern. So können Kinder je nach Entwicklungsstand ihre Stärken erleben oder eben Impulse zur Weiterentwicklung erhalten. Beides ist ja wichtig.

    Woran erkenne ich, in welchem Bereich mein Kind Schwächen hat?
    Hierzu muss das Kind gut beobachtet werden. Mit kleinen Spielen und Übungen können Eltern oder pädagogische Fachkräfte ausprobieren, wo evtl. Förderbedarf besteht. So kann man bspw. das Kind auffordern, sich Dinge zu merken, Informationen zu verknüpfen oder Aufträge auszuführen. Wie viel kann es sich im Arbeitsgedächtnis merken? Werden mehrere Informationen erinnert oder kommt das Kind bereits bei zwei kleinen Aufträgen an seine Grenzen? Mit Spielen wie „Kommando Bimberle“, „Simon says“ oder „Mein Hut der hat drei Ecken“, kann man einfach und spielerisch testen, wie gut es um die Impulskontrolle eines Kindes steht. Absichtlich hervorgerufene Planänderungen, können Aufschluss darüber geben, wie flexibel ein Kind mit unvorhersehbaren Veränderungen zurechtkommt.

    Dann gilt es, dort verstärkt Unterstützungs- und Fördermaßnahem anzubieten wo es zwickt. Immer aber auch mit einem sensiblen Blick für mögliche Überforderungen: Herausforderungen sind wichtig, um sich weiterzuentwickeln – das Gefühl überfordert zu sein, verhindert dies.

    Ein wichtiger Aspekt bei der Beobachtung ist der Abgleich des Verhaltens in verschiedenen Situationen. Eltern erleben ihr Kind meist in 1zu1 Situationen oder in eher kleinen Gruppen. Erzieher:innen meist eher in Gruppen mit vielen Kindern. Die Regulation von Verhalten – und auch von Emotionen – kann in unterschiedlichen Situationen sehr unterschiedlich ausfallen. Hier hilft ein Austausch der begleitenden Personen untereinander: Verhält sich ein Kind „immer so“ oder vielleicht nur in gewissen Momenten? Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass es nicht um die Frage des Könnens geht, sondern des Wollens unter bestimmten Umständen, aber auch darauf, dass eine bestimmte Umgebung oder eine bestimmte Situation Stressoren für das Kind enthält. Stress beeinträchtigt bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen die Fähigkeit, die eigenen exekutiven Funktionen zu nutzen – selbst dann, wenn die exekutiven Funktionen grundsätzlich gut ausgebildet sind.

    Auch schon einige Jahre vor der Pandemie stellten wir gravierende Veränderungen bei der Entwicklung und in den Fähigkeiten der Kinder und in den Familien fest. Wie erklären Sie sich das?
    Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Kinder aus benachteiligten Familien im Vergleich über eher schlechter ausgebildete exekutive Funktionen verfügen. Das hat u.a. den Grund, dass diesen Familien die Möglichkeiten oder auch das Wissen fehlen, die Kinder in gutem Maß zu unterstützen und zu fördern. Auch wirkt sich (chronischer) Stress negativ auf die Entwicklung von exekutiven Funktionen aus.

    Bereits vor der Pandemie bestand aufgrund des gesellschaftlichen Wandels auf verschiedenen Ebenen ein Zuwachs an eher ungünstigen Entwicklungsbedingungen für Kinder. In vielen Familien haben sich bereits vor der Pandemie Stressfaktoren erhöht und der Alltag verändert, z.B. durch ungünstige Wohnsituationen aufgrund steigender Mietpreise, andere Arbeitsbedingungen (etwa ständige digitale Erreichbarkeit) und veränderte Familienstrukturen. Auch weisen Studien auf Veränderungen gemeinsamer Alltagsaktivitäten hin sowie auf Änderungen in der Mediennutzung und auf eine Abnahme körperlicher Bewegung bei Kindern bereits vor der Pandemie.

    Auch Kinder aus Familien, die über die nötigen Möglichkeiten verfügen, können in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sein. Neben allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen gibt es die Theorie, dass zu viele Angebote und „Fremdbestimmung“ den Kindern den notwendigen Freiraum nimmt, um im freien Spiel eigenverantwortlich zu lernen und ihre exekutiven Funktionen zu trainieren. In solchen Fällen könnte sich ein zunehmendes Bewusstsein der Eltern für die Möglichkeiten und den hohen Stellenwert einer guten Förderung der Kinder auch negativ auswirken.

    Die Einflüsse auf die Entwicklung der exekutiven Funktionen sind vielfältig und oft ist erst bei der Betrachtung des Zusammenspiels der Einzelfaktoren zu erkennen, was sich tatsächlich positiv oder negativ auswirkt, zumal auch die Bedürfnisse der Kinder individuell sehr unterschiedlich sind.

    Gibt es bereits veröffentlichte Teile der Studie?
    Nein, es gibt noch keine Veröffentlichungen zu CorA-Kids. Es handelte sich auf dem Symposium um die Erstvorstellung der Studie und ihrer ersten Ergebnisse. Sobald Ergebnisse und Teile der Studie veröffentlicht sind, werden wir auf unserer Website https://www.znl-ulm.de/ unter „Publikationen“ darauf hinweisen.

    Allgemeine und übergreifende Fragen

    Inwieweit ist die „Qualität“ der exekutiven Funktionen von der genetischen Disposition eines Menschen anhängig?
    Es gibt nachweislich eine genetische Komponente, die die Entwicklung der exekutiven Funktionen beeinflusst. Eine genetische Komponente bedeutet aber nicht, dass man es mit einem unabänderlichen Schicksal zu tun hätte, das die Entwicklung guter exekutiver Funktionen völlig unmöglich machen würde. Vielmehr ist solch eine genetische Disposition eher als eine Art Talent zu sehen: Manche Kinder haben ein großes „Talent“ zur Selbstregulation und entwickeln auch unter ungünstigen Umständen gute exekutive Funktionen. Andere habe weniger Talent und sind dadurch mehr auf eine förderliche Umgebung angewiesen.

    Gerade so komplexe Fähigkeiten wie die exekutiven Funktionen werden durch mehrere Gene gleichzeitig beeinflusst und sind auf ein gutes Zusammenspiel, eine gute Passung zwischen Umwelt und Genen angewiesen. Noch wissen wir zu wenig darüber, welche Genkombination zu welchen Förderbedingungen „passt“, bei welchen Genvarianten z.B. Bewegung für die Entwicklung der exekutiven Funktionen besonders hilfreich ist, bei welchen Varianten eher soziales Miteinander optimal wirkt oder Entspannungsübungen und wann feste Regeln und Strukturen der entscheidende Umweltfaktor sind. Wahrscheinlich wird man das auch nie so genau wissen, da der Einfluss der Gene ausgesprochen komplex ist. Daher bieten wir Kindern und Jugendlichen in unseren Konzepten für die exekutiven Funktionen förderliche Umwelteinflüsse auf allen Ebenen an um möglichst alle zu erreichen – und denen, die diese oder jene Maßnahme nicht brauchen, schadet sie aber auch nicht. Die gute Nachricht hierbei: Kinder, deren exekutive Funktionen weniger gut entwickelt sind, profitieren von den Fördermaßnahmen ganz besonders stark und können so aufholen.

    Wie hängen die exekutiven Funktionen mit Resilienz zusammen?
    Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht stellen die exekutiven Funktionen wichtige Voraussetzungen dar, um die zentralen Aspekte der Resilienz (emotionale) Selbstregulation, Problemlösefähigkeit und soziale Kompetenz zu entwickeln. Exekutive Funktionen ermöglichen selbstreguliertes, plan- und rücksichtsvolles Verhalten. Kann ein Kind mit guten exekutiven Funktionen sich rasch von belastenden Ereignissen erholen, wird es im Sinne der Resilienzforschung als widerstandsfähig bezeichnet.
    Den in der Resilienz benannten Schutzfaktoren liegen diese Funktionsweisen zugrunde. Exekutive Funktionen werden deswegen als Querschnittsfunktionen innerhalb der Resilienzfaktoren betrachtet.

    Betrachtet man beispielsweise diese so genannten personalen Schutzfaktoren liegen die Zusammenhänge nahe:.

    • Die Steigerung der Planungs- und Strategieentwicklung und Aufmerksamkeitssteuerung wirkt sich positiv auf den Faktor Problemlösefähigkeit aus.
    • Das Erleben von selbstbewirkten Lösungen bewirkt beim Kind ein Erleben von Selbstwirksamkeit, also der Fähigkeit aktiv Ereignisse beeinflussen zu können und ggf. zu Lösungen beitragen zu können. Diese Erlebnisse stärken, sie machen Mut und stellen Zuversicht her: „Ich kann zu Lösungen beitragen, ich kann mithelfen, dass es besser wird,“ denkt sich das Kind.
    • Die Verbesserung der inhibitorischen Kontrolle, Emotionsregulation und Empathie ist hinsichtlich der Bedeutung für die sozial-emotionale Kompetenz und Resilienz wichtig. Denn wer sich im Zusammenspiel gut regulieren und sich in andere Mitspieler gut einfühlen kann, trägt auch in aufgeregten, schwierigen Situationen zu einem gelingenden Spiel bei.
    • Die Entwicklung von stressmindernden Strategien wirkt sich wiederum entlastend auf die exekutiven Funktionen aus, die dann wiederum besser für selbstreguliertes Verhalten sorgen können. Das bedeutet, dass gute exekutive Funktionen eine wichtige Ressource für effektives Coping und damit Umgang mit Stress darstellen.
    Wie wichtig ist das gemeinsame Mittagessen? In der Kita möchte man ein Bistro einrichten, in dem Kinder in Schichten Mittagessen. Wie argumentieren Sie für ein gemeinsames Mittagessen?
    Eine gemeinsame Mahlzeit ist eine ausgezeichnete Situation um durch Kommunikation während der Mahlzeit aber auch durch Rituale und festgelegte Regel die exekutiven Funktionen in einem sozialen Setting zu fördern. Auch schwierige Aspekte, etwa das Essen mit Messer und Gabel und das gemeinsame Anfangen sowie das (mehr oder weniger) geduldige Abwarten bis alle fertig sind, stärken die exekutiven Funktionen. Das gelingt allerdings nur, wenn die Situation gut durchdacht und vorbereitet ist, Regeln und Rituale bekannt sind und ihre Einhaltung eingefordert wird und wenn auch tatsächlich bei Tisch miteinander gesprochen wird und ein echter Dialog entsteht.

    Gerade der kulturelle Aspekt des gemeinsamen Essens ist einer der ursprünglichen Faktoren, die für die (Weiter-)Entwicklung exekutiver Funktionen beim Menschen bedeutsam waren. Dabei bedingen sich die unterschiedlichen Aspekte gegenseitig: Die Zubereitung des Essens mittels Hitze (Garen) erlaubte es, Nahrung besser aufzuschlüsseln und Nährstoffe leichter aufzunehmen, was sich günstig auf das Hirnwachstum und damit auch auf die exekutiven Funktionen auswirkte. Zugleich waren gute exekutive Funktionen notwendig, um das Feuer „am Leben zu erhalten“, es aufmerksam zu beobachten und vorausschauend zu planen (Brennstoff beschaffen und bereithalten), denn es war ursprünglich überaus schwierig, ein Feuer neu zu entfachen.

    Lieber Prof. Spitzer, was Sie zum Spracherwerb, Genetik und Förderung erzählt haben, dazu würde ich gerne mehr erfahren. Haben Sie zu dem Thema speziell etwas geschrieben? Wenn nicht, hätten Sie für mich einen Buchtipp?
    Viele meiner Publikationen zu diesen Themen finden Sie auf der Homepage des ZNL (https://www.znl-ulm.de/geist-und-gehirn/), z.B. in den Rubriken „Lernen, Bildung und Erziehung“ und „Kulturelle Aspekte“. Viel Spaß beim Stöbern und Schmökern.

    Danksagung

    Wir bedanken uns bei allen Rednern und den Teilnehmer:innen der Diskussionsrunde: Herrn Staatssekretär Volker Schebesta, Herrn Christoph Dahl, Geschäftsführer der Baden-Württemberg Stiftung, Frau Birgit Pfitzenmaier, Stellvertretende Geschäftsführerin und Leiterin der Abteilung Gesellschaft & Kultur der Baden-Württemberg Stiftung und Frau Dr. Cornelia Becker, Stellvertretende Geschäftsführerin des Evangelischen Landesverbands – Tageseinrichtungen für Kinder in Württemberg.

    Allen Teilnehmenden des Symposiums danken wir für ihr Interesse und die spannenden Fragen und Kommentare, die uns über den Chat erreicht haben. Unser ganz besonderer Dank gilt den Kitas, Kindern und Eltern, die an den aktuellen Erhebungen teilgenommen haben, die damit unsere Arbeit erst möglich machen und uns helfen, Kitas und Fachkräfte im ganzen Land zu unterstützen. Bei der Baden-Württemberg Stiftung bedanken wir uns für die langjährige Zusammenarbeit im Projekt EMIL und für die Förderung des Projekts CorA-Kids.

    Ihre
    Dr. Petra Arndt und das Team vom ZNL

    Besondere Zeiten erfordern besondere Aktivitäten!

    Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbote, Schul- und Kitaschließungen bringen für jede Altersstufe eigene Herausforderungen mit sich aber auch neue Chancen. Doch wie kann man das Beste daraus machen? Um hierzu Anregungen zu geben, haben wir als Team aus Hirnforschung, Pädagogik und Psychologie unsere Forschungsprojekte nach Nützlichem durchforstet und stellen Ihnen, den Familien, Eltern, Jugendlichen und auch Erzieherinnen und Lehrkräften die Ergebnisse unter https://aktuell.znl-ulm.de vor.